Pferde im Herbstnebel
An einem Nachmittag Ende Oktober 2020 bin ich in meinem geliebten Bruch nahe der Ortschaft Wieckenberg unterwegs, dem Ort meiner Kindheit. Seit 2019 ist nun auch hier ein Rudel Wölfe ansässig. Ein Revier größer als 20 km² mit zusammenhängenden Waldflächen und oft unzugänglichem Weidegelände birgt kaum Hoffnung auf Sichtung der Wölfe, zumal die Tiere von Natur aus äußerst scheu sind. Ein Großteil der Bevölkerung hat zudem Angst vor ihnen oder heißt sie wegen der Gefahr für die Weidetierhaltung nicht willkommen.
Wölfe meiden den Menschen instinktiv und ziehen sich zurück, sobald sie einen Menschen wittern. Wolfsbegegnungen gemessen an ihrer zahlenmäßigen Verbreitung sind selten, es sei denn, einzelne aus dem Rudel verstoßene Wölfe sind auf der Suche nach einem neuen Revier. Dann kommt es durchaus zu Begegnungen zwischen Wolf und Mensch.
Ein Rudel Wölfe besteht in der Regel aus den Wolfseltern, ihren Jungen und einigen Halbwüchsigen. Die Heranwachsenden müssen irgendwann das Rudel verlassen und gründen ihr eigenes Territorium. Welpen werden schon früh auf ihre Beute geprägt - bei Großtieren sind das vor allem Rehe, Rothirsche und Wildschweine. Menschen gehören nicht zum Beuteschema eines Wolfes.
Heute am 23.Oktober auf meiner Pirsch durchs Bruch wünsche ich sehnlichst eine erneute Wolfssichtung in freier Wildbahn herbei, denn meine erste liegt nur wenige Monate zurück.
Rückblick auf einen Tag im Juni 2020 mit Wolfsbegegnung:
Es war schon halbdunkel an diesem fortgeschrittenen Sommerabend, als ich mit meinem Rad die Flurstraße nach Jeversen befuhr. Kurz vor der Brücke über den Fluss Wietze erblickte ich eine gedrungene Gestalt am Ufersaum, einem Schäferhund nicht unähnlich. Ich schaute aufmerksam und gespannt in die einbrechende Dämmerung, habe ich doch niemals Hunde entlang der Ufervegetation frei laufen sehen. Auch eine dazugehörige menschliche Person ließ sich nirgends ausmachen. Ich radelte langsam weiter die Böschung dabei fest im Blick behaltend. Für einen Fuchs viel zu groß verriet die Statur auf dem Uferrand. Mein Herz fing an zu rasen. Ich merkte, wie es in den Halsadern wild pochte. War das etwa ein Wolf.?... Kein Zweifel. Ja, ich wurde immer aufgeregter. Im Dunkeln sind bekanntlich alle Tiere grau. Dieses war überwiegend bräunlich/grau und hatte zudem noch typische helle bis weiße Partien seitlich der Schnauze und an der Kehle. Das ließ das Restlicht gerade so erkennen. Das Abendlicht des Westhimmels wurde im Fluss gespiegelt und zum Glück trabte der Wolf nah entlang der Wietze, so dass ich ihn in seiner ganzen Pracht wahrnehmen konnte. Ich war total begeistert und innerlich berührt. Natürlich riss es mich förmlich vom Fahrrad, nicht aus Angst aber wegen der Aufregung in mir. Ich hatte kein Fernglas dabei. Der Wolf kam in meine Richtung auf die Brücke zu. Ein doch mehr als mulmiges Gefühl stieg alsdann in mir auf. Sollte ich mein Rad schnell rumreißen und nur Reißaus nehmen?
Einen Wolf hatte ich an jenem Abend wirklich nicht erwartet, obwohl ich seit dem Erscheinen der Wölfe in der Lüneburger Heide und dem nahen Truppenübungsplatz Bergen-Hohne meist intensiv nach ihnen Ausschau halte. Die Spuren im Sand sind für den Wolfsfachmann zwar gut zu erkennen, ich aber habe immer noch meine Zweifel, den Abdruck einer Wolfspfote sicher von denen größerer Hunde zu unterscheiden, obwohl ich den Unterschied sehr wohl kenne. Fährten in freier Wildbahn sind wegen des Untergrunds, der Zeit die verstrichen ist seit die Spur entstand, der Schnelligkeit, der Größe und des Gewichts des Tieres immer schwierig zu identifizieren. Aber in unserer an echten Raubtieren mangelnden natürlichen Umgebung werde ich sehr bald die wenigen Wolfsspuren zuordnen können, so hoffe ich mal.
Zurück zu meiner ersten wahrhaftigen, aber seither auch einzigen Wolfsbegegnung in diesem Gebiet. Ich weiß nicht, ob der Wind unglücklich stand, so dass der Geruch meines Angstschweißes den Wolf aufmerksam gemacht hat - Wölfe riechen nicht nur hervorragend sondern können auch sehr gut sehen. Bewegt habe ich mich jedenfalls nicht, im Gegenteil ich war schon eine ganze Weile völlig erstarrt. Was es auch immer gewesen sein mag, der Wolf blieb urplötzlich stehen und schaute aufmerksam zu mir herüber. " Komm ruhig noch in bisschen näher", bat ich ihn gedanklich verunsichert .
Ich hatte im Sommer 2019 wilden Bären und Pumas die Stirn geboten und im Frühjahr 2020 die ersten freilebenden Löwen meines Lebens gesichtet, da kam mir das Erlebnis mit diesem Wolf gerade recht. Was ist eine Wildbiologin ohne Raubtierbegegnungen. Meine geheimsten Wünsche erfüllen sich gerade, Auge in Auge mit einem Wolf.
Nun, dazu kam es dann leider doch nicht. Der Wolf drehte sich abrupt auf seinen Hinterpfoten um und verschwand alsbald im schützende Ufergebüsch. Vergeblich spähte ich in die Dunkelheit den Flusslauf entlang. Er war fort, genau so klamm heimlich, wie er gekommen war. Und doch ließ er etwas zurück. Mich. Und ich war jetzt irgendwie verändert.
Endlich war ich ihm begegnet, einem freilebenden Wolf. Etwas verdutzt wegen der überraschenden Begegnung schwang ich mich nach einer Weile aufs Fahrrad und radelte langsam heim - zutiefst zufrieden mit mir und der Welt und überglücklich. Sie sind wieder da, die Wölfe. Mögen sie ihren angestammten Platz einnehmen und wir Menschen ihnen diesen Raum lassen. Mögen wir die Würde dieser wunderbaren Tiere erkennen und achten. Sie sind ein weiteres Geschenk an uns. Erwachen wir zu würdigen Menschen, die das Wohl aller Geschöpfe in sich spüren und dementsprechend weise handeln.
Doch heute, am 23. Oktober 2020, sehe ich keinen Wolf. Und so besuche ich mal wieder meine Wunscheiche, einen mystischen Baum, dem viele meiner Geschichten gewidmet sind.
Ich meditiere wie so oft lange auf einem seiner wundervoll geschwungenen Äste und fühle mich diesem Baum zutiefst verbunden. Schon als Kind habe ich hier gesessen, immer wenn ich was auf dem Herzen hatte. Und davon gab es sehr viel.
Heute aber erreicht mich ein innerer Ruf aus der Stille. Genau gegenüber dieser extensiv genutzten Weide, auf der meine Wunscheiche thront, befindet sich der Brink, ebenfalls eine Naturweide mit traumhaftem Gehölz und uralte Bäumen. Die zentrale Mitte ist unwegsam zugewachsen und bietet besonders Wildschweinen den nötigen Schutz. Im ringförmigen Zentrum der übergroßen Weidenfläche stehen hohe jüngere Laubbäume. Es ist eine richtige Bauminsel. Rings um diese Insel wallen im Frühjahr die Gräser wie Wellen im Meer. Mit den mächtigen Eichen und weißstämmigen alten Birken im Westen ist der gesamte Ort ein mystischer Platz. Schon immer begleitet mich das Gefühl, dass diese Stätte heilig ist. Vielleicht liegt meine Verbundenheit mit diesem Platz auch darin begründet, dass ich schon vorgeburtlich im Bauch meiner Mutter diesen Ort intensiv wahrnehmen konnte.
Ich klettere also runter von der Wunscheiche und mache mich auf den Weg hinüber zu diesem Brink. Es ist inzwischen echt kalt und bereits dunkel geworden. Eigentlich Zeit für den langen Heimweg zu Fuß. Aber irgendwas hält mich davon ab und treibt mich dorthin zum Brink. Die jetzigen Besitzer nutzen den Weidenteil als Pferdekoppel und immer wenn ich in der Gegend bin, besuche ich die Rappen, die den Sommer über die Weide abgrasen. Jetzt Ende Oktober sind alle Weidetiere bereits fort. Ich finde das Gatter geschlossen aber nicht abgesperrt. Naja, was habe ich hier noch erwartet. Ich bin allein. Dennoch zieht mich die Insel magisch an. Sie wirkt in der Dunkelheit viel undurchdringlicher. So stolpere ich mehr, als dass ich gehe. Überall Brombeeren und Zweige. Ein Dickicht aus Unterholz und mannshohem Adlerfarn. Letzterer ist bereits um diese Jahreszeit abgeknickt oder ist die lange Trockenheit des Sommers die Ursache? Nur gut, dass hier kein Stacheldraht ist. Die Insel ist wegen der Pferde lediglich mit einem Elektrozaun gesichert.
Es riecht nach Herbst. Der Nebel setzt ein. Dadurch verstärkt sich der modrige Geruch einer absterbenden Vegetation. Ein eigenartiges Gefühl der Vergänglichkeit beschleicht mich. Traurigkeit steigt auf. Hier war ich mal so glücklich. Dieses Stück Erde wollte ich immer behalten. Hier fühle ich mich sowas von wohl. Schon immer. Wie viel ist seit dem frühen Verkauf des Brinks passiert. Vergangenes steigt in mir auf. Selten fand ich schönere Fleckchen Erde als dieses. Im Sommer, immer wenn ich mal wieder in meiner Heimat weile und die Pferde auf der Koppel weiden, komme ich hierher. Die Pferde begrüßen mich stets sehr lebhaft. Sie sind beständige Wesen des Brinks und ich freue mich ihnen zu begegnen.
Jetzt muss ich weinen. Tränen rollen ungehemmt die Wangen hinunter. Eine so vertraute und bekannte Sehnsucht bemächtigt sich meiner gänzlich. Es ist völlig still, total dunkel und irgendwie auch sehr einsam. Kein Laut dringt zu mir. So werde auch ich innerlich gänzlich still und fange mich langsam wieder. Ich fühle mich besser, indem ich mich diesem Augenblick hingebe, werde schließlich eins mit der Dunkelheit, die mich jetzt vollständig umschlungen hält.
Der Nebel durchfeuchtet meine Kleidung. Ich friere und beschließe, diese Insel zu verlassen. Dabei berühre ich unsanft den Elektrozaun - Gott sei Dank ist er nicht geladen. Sie haben den nicht mal eingerollt. Warum auch. Die Pferde kommen nächsten Sommer wieder. Ansonsten passiert hier nichts.
Gerade als ich in der Dunkelheit nach dem Gatter spähe, nehme ich irgendetwas nur wenige Meter vor mir wahr. Es ist groß, viel größer als ich es bin. Ein riesiger dunkler Schatten ragt aus dem Nebel. Kein Geräusch aber ein Körper oder sind es sogar zwei? Sollten die Pferde letztendlich doch hier sein und ich habe sie während meines Streifzugs im Dunkeln einfach übersehen? Wenn es die mir vertrauten Rappen vom Sommer sind, hätten diese sich dann nicht bemerkbar gemacht durch nervöses Schnauben oder ähnliches? Zumal ich einfach so im Dunklen auf sie zu stolpere? Oder sie wären auf mich zugekommen, so wie sie es tun, wenn sich jemand in diese Einsamkeit zu ihnen verirrt. Sie vertrauen Menschen. Das habe ich immer wieder erleben dürfen.
Diese Geschöpfe der nächtlichen Weide aber bewegen sich nicht, kein bisschen. Ganz, ganz schwach vermitteln mir meine an die Nachtdunkelheit gewohnten Augen sowas wie Pferdeköpfe, die sich gegen den Himmel abzeichnen. Ich versuche sie herbeizurufen. Nein, nix. Sie bewegen sich einfach überhaupt nicht. In dieser Umgebung zu dieser nächtlichen Stunde in dieser Stille des Herbstnebels wird mir ein wenig anders, keine wirkliche Angst, nur ein großes Unbehagen, weil mein Verstand aussetzt. Ich finde keine Erklärung für das, was hier gerade passiert oder eher nicht passiert. Natürlich, das sind Pferdeumrisse, was denn sonst, die Rappen wie immer. Sie verhalten sich aber nicht so wie immer. Zwei Wesen Kopf an Kopf stehen dicht gedrängt unbeweglich in der Nacht.
Jetzt durchfährt es mich, denn der Kopf sucht angestrengt nach logischer Erklärung. Wenn es hier doch Wölfe gibt und die beiden Kerle stehen immer ganz allein auf der Weide, dann bleiben sie einfach nachts dicht beieinander und begrüßen nicht mal mich, den Menschen, der sie so gerne berührt hätte. Eigentlich müssen es ja vier Pferde sein, so wie immer. Ich nehme lediglich zwei Schatten wahr. Ich locke weitere Male. Vergeblich. Ach, das wäre auch für mich ein vertrautes Gefühl, wenn sie endlich zu mir kämen, aber sie verharren reglos in der Dunkelheit. Nun wage ich noch, mich ihnen einige Schritte in völliger Dunkelheit anzunähern. Nix. Es ist wirklich mehr als unheimlich. Unschlüssig drehe ich mich schließlich um. Näher heran an diese dunklen Wesen traue ich mich nicht mehr in dieser kalten, nebligen Oktobernacht. Schluss. Ich ziehe mich zurück, suche und finde das Gatter und verlasse den Brink in Richtung Dorf. Es ist ein langer Rückweg über sandige Wege. Ein seltsames Gefühl begleitet mich die ganze Zeit über. Bin mir einfach nicht sicher, was ich wirklich gesehen, soeben erlebt habe. Deshalb beschließe ich noch auf dem Heimweg, am folgenden Tag zurückzukehren und der Sache bei Tageslicht auf den Grund zu gehen.
Am nächsten Tag komme ich wieder und finde alles so vor wie in der Nacht: das nicht zugesperrte Gatter, die unwegsame Insel, die abgeteilte Weide, die uralten Bäume, selbst die Sonne scheint heute, aber Pferde sehe ich keine. Nicht mal eine Spur von ihnen kann ich entdecken. Keinen einzigen Hufabdruck im Sandboden. Ihr Unterstand ist zugesperrt und das Tor mit Spinnweben versehen. Selbst die Tränke ist völlig ausgetrocknet und erstes Laub in der Wanne gefangen. Die Weide ist unversehrt und auf der Zuwegung sind keine Reifenspuren. Keinerlei Anzeichen, die darauf deuten könnten, dass am frühen Morgen noch vor meinem Erscheinen, Pferde in einen Hänger verladen worden sind.
Die Pferde des Nebels bleiben verschwunden ...