Lichtwesen der Engelsteinhöhle

Foto: 23.7.2020

"Griaß di God", grüßt mich eine einsame Wanderin, " und löschen's doch bittscheen die Kerze in der Höhle."
Außer der alten Dame und mir ist niemand sonst da, den sie gemeint haben könnte. Es geschah am 23.Juli 2020 zu Beginn meiner Wanderung zum Engelstein. Ich wollte einmal wieder das prächtige Felsmassiv des Engelsteins besteigen, um dann anschließend auch die Höhle  aufzusuchen. Diese befindet sich direkt am Fuße des Engelsteins. Ich mag es, dort ein kleines Höhlenritual durchzuführen. Aber was weiß diese Frau davon? Es gibt viele Wanderwege in alle Richtungen führend, die von meinem gewählten Parkplatz ausgehen und nicht zwingend zum Engelstein führen. Außerdem habe ich überhaupt kein Feuerritual geplant. Meine vorangegangenen Experimente mit offenen Feuern und diesbezüglichen Räucherungen in sehr kleinen Höhlen will ich der Engelsteinhöhle nicht zumuten.
 
Diese mystische Höhle, soll der Sage nach ein Ort sein, an dem drei wilde Frauen nach ihrem Tod als Gespenster weiterleben. Hinter den Felsen stand einst ein Schloss, in dem die drei "Edelfräulein" wohnten. Rasch nacheinander verstorben, sollen sie auch jetzt noch in den Felsen und Höhlen am Engelstein umherstreifen. 

Von all dem habe ich nichts in meinem Kopf, als ich gegen Mittag einfach mal meinen ursprünglichen Plan ändere und zunächst die Höhle aufsuche. Tatsächlich finde ich in der Mitte der Höhle auf einem Felsen platziert eine wunderschön brennende Kerze, deren zartes Licht ein bizarres kleines Schattenspiel an die Höhlenwand zaubert. Inmitten der Höhle direkt vor dem Felsen setze ich mich zunächst zu einer Brotzeit nieder. Der steinige Untergrund ist hart und kalt. Dennoch hat diese Kerzenflamme etwas Gemütliches.

Ich liebe diese Höhle, deren Eingang sich durch einen engen Felsspalt windet. In völliger Dunkelheit betritt man den Raum, der sich alsbald weitet und in einem überdimensionalen Himmelstor nach Süden hin sein abruptes Ende findet. Dahinter fällt der Felsen steil und unzugänglich ab. Warmes Tageslicht durchflutet die Höhle lediglich für wenige Meter. Riesige uralte Buchen türmen ihre Mächtigkeit schützend um das Felsentor. Ein zauberhafter Ort zumal die nachmittägliche Julisonne das grüne Blätterwerk in liebliches Lichtspiel hüllt.
Ich schließe die Augen und verweile meditierend auf dem Höhlenboden. Der Felsboden verleiht mir Kraft und Stärke, die Stille lässt mein Gedankenwerk verstummen und in der Höhle entsteht ein Urgefühl von Geborgenheit. Das Rauschen der Blätter am Abgrund, das Licht der Sonnenstrahlen im Höhlentor und der Gesang eines Vogels aus der Ferne tauchen mich ein in einen wortlosen Dialog mit den Elementen der Erde. Die Festigkeit des Felsens steht im lebendigen Austausch mit der sich wandelnden Natur außerhalb der Höhle. Nach einer ganzen Weile öffne ich meine Augen wieder und mein Blick fällt auf die fast gänzlich niedergebrannte Kerze, die jetzt einen gar zu verlockenden Reiz auf mich ausübt. Rasch erhebe ich mich, verlasse die Höhle fest entschlossen, diesen glücklichen Umstand - ich habe an diesem Tag keine Streichhölzer dabei - zu nutzen und sammle schnell einiges trockenes  Brennholz. Zurück in der Höhle entzünde ich mit der Restkerze das Holz für ein kleines Ritual. Völlig in die Gegenwart dieser Zeremonie eingehüllt erscheint inmitten meines Gesanges urplötzlich ein Lichtwesen im südlichen Himmelstor der Höhle. Die unbeschreibliche Schönheit in vielerlei Gestalt verzaubert mich. Ich singe einfach weiter, während die verschieden farbigen Strahlen den Engel umspielen. Dieser ist zwar still, dennoch durchaus lebendig in seinem Tanz zum Flackern des Feuerscheins. Ich verstumme und genieße dieses traumhafte Spiel aus Wesen und Reflexion, Fels und Höhle, Sonne und Licht, Feuer und Rauch, Bäumen und Blätterwerk. Meine ursprüngliche Absicht, den Engelstein zu besteigen, vergesse ich schlichtweg.

Was an der Sage mit den drei wilden Frauen dran ist, weiß ich nicht.
Aber dieses bezaubernd anmutige Spiel des Lichtwesens in der Öffnung der Engelsteinhöhle erfüllt mich mit Licht und Hingabe. Der Tanz des Engels an diesem Tag erinnert mich an meine eigene Wildheit. Ich spüre die tiefgreifende Natur- und Erdverbundenheit in mir. Während meines Feuerrituals belebe ich diese Ursprünglichkeit, gebe ihr den gebührenden Raum und verleihe ihr einen neuen Ausdruck. Heil und Segen diesem Ort und ein großes Dankschön an die Engelsteinhöhle mit ihrem Engel für diese Erfahrung!